Text: Christian Dinse
Veröffentlicht: im Buch »Jedes Wort ist Gold wert« (2020)
Ich hasse das ständige Weggehen. Das Weggehen, meist zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich gerade daran gewöhnt habe, wie herrlich vertraut und sicher sich das Leben anfühlt. Meist dann, wenn alle Bewegungen und Gesten erprobt eingespielt sind, wir vergnügt sind und ich zufrieden, wie alles ist. Zufrieden darüber, wer bei mir ein- und ausgeht. Zufrieden darüber, wer sich in meinem Leben einen Platz erwürfelt hat und ich es geschafft habe, dass sich diese Menschen in meinem Leben wohlfühlen, ich selbst mich in meinem Leben wohlfühle.
Nach und nach ein Lächeln mehr, ein Lachen mehr, zusammen gewachsen und zusammengewachsen. Aus im Schatten und Weltsumpf übersehbarer Soloalben hin zu im Scheinwerferlicht breitbrüstiger Kompanie wortwitzig wahnwitziger Langspieler. Nach und nach Silben, nach und nach Worte zur Einleitung eines Satzes, eines großen Gespräches, einer attraktiven Kaskade alltäglich belangloser Milieuerlebnisse. Eine produktive Schöpfung gar wunderlicher Findigkeit, im Bezug auf Abendgestaltung und Wochenendplanung. Vom Dienstgrad der namenlosen Verteidiger persönlicher Begierden gemausert zu meinen Freunden, meinen Helfern. Wir als gemeinsame Streitmacht, auch mal tief drin im Sumpf der trostlosen Traurigkeit, aus dem wir uns gegenseitig am Schopf herausziehen.
Wir, die sich herausziehen und herausboxen aus Handgemengen, sich herausputzen und umherziehen, in Bars gehen und Konzertsäle, auf Kleinkunstbühnen, (laut Hörensagen) vor Theatertüren betrunken und übermütig pöbeln und auf den Kapitalismus schimpfen, den Platzverweis aber mit dem Handrücken aus der nebligen Nachtsuppe winken, weil ausgerechnet wir die Verrückten sind, die kurz darauf diese Bühne bespielen müssen. Wir, die dort gern mal Ruhm, dahinter weiteren Rum aufsaugen wie Spülschwämme, wir die auf Stühlen bei Lesungen sitzen und in der Stadt über fehlende Kultur jammern.
An die eine: Weißt du noch? Wir sind zusammen durch norddeutschen Schlamm gerobbt, Hand in Hand, für den Spaß an der Sache und für die gemeinsamen Teestunden während der Erkältung danach. Wir standen auch einmal hüfttief im Wasser, weil wir versehentlich mit den Rädern falsch abgebogen sind und dann die Flussdurchquerung als Abkürzung gewählt haben. Geblieben ist die Erinnerung daran, aber lieber hätte ich das vis-à-vis mit dir und das darüber reden behalten und nicht das allein Schmunzeln.
Die Aufarbeitung von Gemeinsamkeiten und das Schreiben dieser Worte bringen mich zurück zum Anfang und dem Weggehen. Dem Weggehen von Bestimmten. Bestimmten Menschen, die gerade erst gekommen sind, um zu bleiben, es aber nicht tun, weil sie ihre persönlichen Interessen über die gemeinsamen Interessen stellen. Die gemeinsamen Interessen, die sich unterscheiden von den geträumten Leben im Kopf. Die geträumten Leben im Kopf von denen wir uns nur bruchteilhaft erzählen, aus Selbstschutz per Selbstjustiz und eigentlich absolut legitim. Diese geträumten Leben unterscheiden sich leider zu oftin wesentlichen Punkten von den gelebten Leben. Mit dem Arbeitsplatz nicht zufrieden, mit dem Bioladen nicht zufrieden, mit dem Vermieter nicht zufrieden und auch nicht mit der Aussicht durchs Küchenfenster. Und ganz gewiss nicht mit den Nachbarn, die ihr in Wahrheit aber niemals wahrnehmt, weil ihr sowieso nur acht von 24 Stunden in den eigenen vier Wänden verbringt, szenetypisch effizient bedröhnt. Der Keller ist sowieso zu klein, der Fußweg zum Zahnarzt in dieser Stadt unzumutbar und überhaupt wohnt die eigene Familie viel zu weit weg. Im Sommer scheint hier auch seltener die Sonne als anderswo, die fehlende Kultur hatten wir bereits aber das Argument unausgewogener Work-Life-Balance durch krude Lokalpolitik sei noch ergänzt.
Warum, meine lieben Freunde, die ihr täglich mit diesen Phrasen bei mir vorsprecht, versucht ihr nicht mal etwas Neues. Nicht etwas Neues durch Verlassen des Kontextes und weiterziehen, nicht die blaue statt der roten Pille, sondern dem Bleiben und Besinnen auf die positiven Eigenheiten. Die Gewissheit darüber, dass ihr nicht allein seid, Ruhe habt, wenn ihr Ruhe braucht, die traurigen Clowns von früher längst erfolgreich gegen herzensgute Freigeistgesellen und ehrliche Unterstützer, Spielgefährten, Partner, grundsolide Begleiter und verhältnismäßig zuverlässige Kumpel und Verbündete getauscht habt.
Spart die Kraft, wenigstens einmal und entscheidet euch dafür, auch einen zweiten Sommer am gleichen Fleck zu verbringen.
Ach ja, so einfach ist es nicht und ich beschönige aus Blindheit. Es zieht euch weg, denn woanders ist unbestritten alles besser. Ihr seid Träumer. Ich liebe die Stelle wo man in den Bus einsteigen kann, obwohl ich nur Fahrrad und Auto fahre. Ich liebe die Stelle am Wasser, wo wir mittags hingehen und essen. Ich liebe die Tage, an denen wir uns von Attitüden fremder Menschen
unterhalten lassen, indem wir ohne Unterhaltung einfach mitten im Stadtzentrum einen Platz zum Sitzen und Beobachten wählen.
Ich möchte schreien und förmlich vor Wut platzen, so traurig ist es, schon jetzt zu wissen, der Mehrzahl toller Menschen, die mich derzeit umgibt, in 365 Tagen schon Lebewohl gesagt zu haben. Ich umgebe mich jetzt schon mit den Nebelschwadenbildern, die die Vergangenheit zeigen, die aus dem Heute besteht. Ich saß wegen euch tatsächlich schon mit einem lachenden und weinenden Auge auf dem Rasen vorm Haus und spielte Regenwolke für Gänseblümchen.
Weil es so leicht ist, schenkt ihr der Zukunft gern Vorschusslorbeeren und sprecht ihr zu, besser zu sein. Immer wieder sagt ihr, die Vergangenheit wäre nicht wert, einen Gedanken zu verschwenden.
Ich frage mich oft, ob ich unnormal bin, weil ich mir wünsche, alles was war nie zu vergessen und morgen noch das zu haben was mich heute umgibt.