Unsere kleine Welt aus Musikern, Autoren, Malern und Tänzern, die im Jahr 1996 aus vielleicht zwanzig Menschen bestand, schaffte es jeden Tag aufs Neue, fremden Personen mit Kunst ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Als Einzelkämpfer liebte jede(r) von uns den Sog des eigenen Schaffens, aber lernte gleichermaßen schmerzlich die Herausforderungen des Stürzens kennen.
Am 15.07.1996 gründete ich Agentur 73 (heute FAKTOR73) und darf seitdem mit Menschen und für Kunst arbeiten. Auf und hinter Bühnen. On Air, gedruckt, Offline und Online.
Bis heute kreuzten unzählige Menschen, Unternehmen und Orte diesen Weg. Wichtige Bezugspersonen aus den Jahren sowie relevante Orte sind in dieser Liste notiert, um sie in Erinnerung zu behalten.
Es ist geplant, Fotos und unterhaltsame Geschichten im Buch »We called it Rock and Roll« zu veröffentlichen.
»Wenn du millionen Hände schüttelst, sind immer auch ein paar schmutzige dabei.«
Goldgräberstimmung (2000)
Zwei Flaschen Bier für die zwei verrückten Gören, die gerade 900 Kilometer mit dem Auto gefahren sind und nun auf einem Acker am Stausee Rabenstein stehen. Der Stausee Rabenstein liegt im Bundesland Sachsen, ganz in der Nähe der Stadt Chemnitz und ist an diesem Wochenende zum dritten Mal Austragungsort des Splash!-Festivals, einer der sympathischsten Hip-Hop-Open-Air-Veranstaltungen des Jahrzehnts in Deutschland.
Giulia ploppt den Deckel ihrer Flasche auf, während ich mir den ersten Matsch vom Schuh kratze. Wir sind diese Gören, freie Gören voller Tatendrang, gerade die Zwanziger überschritten und immer schön am Rand der Selbstzerstörung. Wir stoßen mit den Typen vom Nachbarzelt an und begeben uns auf den Weg zum Grundpegel des Wochenendes.
Die Welt hier auf dem Feld ist anarchisch entspannt. Es spielen Menschen Tischtennis auf einem brennenden Klapptisch, andere drehen Joints, bauen Zelte oder Pavillons auf. Einer ist nackt. Irgendwo in der Nähe mischt jemand Beats von Gang Starr mit Vocals von Luckie D. Ich bin fest davon überzeugt, dass die guten Momente wieder Überhand nehmen und die traurigen der letzten beiden Jahre überflügeln. Heute ist das Wohlfühlklima hergestellt und die jugendliche Euphorie, mit eigener Kunst ein paar Geldstücke zu verdienen und durch eigener Hände Arbeit in der verteufelten Medienbranche zu bestehen, fühlt sich wie ein Triumph an. Wenn du alle Nase lang SMS von Menschen bekommst, die du nie persönlich gesehen hast und du in Städten unterwegs bist, die du allesamt nur aus dem Fernsehen kennst (und: du obendrein sogar fürs Betrinken bezahlt wirst) glaubst du schnell, es geht immer so weiter.
Mit der zweiten Flasche Bier in der einen und Giulia an der anderen Hand mache ich mich auf den Weg zum Organisationsteam des Festivals. Die frische Luft tut gut und füllt die Akkus wieder auf, die von unserem Termin in Frankfurt am Main und dem Stau auf der Autobahn leergesaugt sind.
Die Kuh molk sich von allein
Anekdote: Schmatzend und in sich gekehrt lungert die ruhige Stimme des Mittevierzigers immer noch in meinem Ohr. Dieser Mittevierziger, der uns im Büro bei einem bekannten Musiklabel gegenübersitzt und dessen Brötchengeber unter den geänderten Bedingungen der Märkte leidet. Seit ein paar Monaten ist die strukturelle und konjunkturelle Unternehmenskrise allgegenwärtig. Die Branche hat sich verzockt und ist angeschlagen. Nebenan ist schon alles leergeräumt, die Etagen oben drüber sind bereits neu vermietet. Außen hängen wenigstens die großen Buchstaben noch an der Glasfassade des Gebäudes, darum schießen wir ein paar Fotos, wer weiß wie lange das noch gehen wird. Bei der Suche nach Antworten auf Fragen, die er in Wahrheit nicht hören will, schaut er uns schweigend an. Schlecht ist, wenn man gezwungen ist, unehrlich zu sein, nicht über den eigenen Schatten zu springen, um den eigenen Stuhl nicht zu gefährden. Wir wollten gar nicht viel mehr, als in Erfahrung bringen, ob unsere gemeinsamen Projekte weiter gehen oder ob wir sie zumindest würdevoll zu Grabe tragen können. Blauäugig sind wir lange nicht mehr, die Arbeit in der Unterhaltungsbranche ist kein Zuckerschlecken. Immerhin waren die Schecks gedeckt. Wegen Gemeinnützigkeit oder wegen der Kunst sind wir gezwungenermaßen längst nicht mehr im Einsatz, soviel ist klar, aber auch wenn es nur ums Geld geht, sollte man das Aufgebaute nicht von heute auf morgen einfach wegwerfen. Es gibt da draußen in der echten Welt tausende, ja zehntausende Fans, hundertausende strahlende Augen, für die einzig die Liebe zur Musik wichtig ist. Dass das von jetzt auf gleich mit Füßen getreten wird ist hart.
Die Kuh molk sich Jahrzehnte lang von allein und jetzt, wo durch die eigenen Fehler und das Nichtverständnis der Welt die Felle eins nach dem anderen davon schwimmen, ist man im Musikgeschäft überfordert, die Anforderungen zu verstehen, die einer gesunden Kundenbeziehung weiterhin dienen können.
Hätten wir doch nur was Richtiges gelernt, vielleicht etwas mit Handwerk, das hat ja goldenen Boden und die schmerzenden Knochen abends würden davon zeugen, was wir am Tag geschafft haben.
Was soll all der Geiz und Neid auf Sachen die wir nicht haben, was zählt ist der Tag und der ist gut. Die Wolken werden kleiner und die Sonne macht aus diesem Freitag endlich einen würdigen Sommertag. Claudia sitzt in ihrem Containerbüro und ist vom Wetter wenig begeistert, denn die heiße Luft staut sich hier drin, wie in einer Sauna. Sie macht auf einer Liste zwei Kreuze neben unseren Namen, hängt uns die Pässe um und erzählt von ihrem bevorstehenden Urlaub in Portugal.
Es herrscht wieder Goldgräberstimmung in der deutschen Hip-Hop-Szene und egal wie dieses Wochenende ausgeht, es wird Sturm geben.
Wie es angefangen hat
Als Nils‘ Weg zufällig meinen kreuzte, mündete dieses Kennenlernen in der schönsten Bierlaune meines Lebens, der Gründung eines Musik- und Kulturmagazins im Winter 1997.
Wir alle hatten damit einen Rahmen für gemeinsame Arbeit und schafften einen Multiplikator zum Spielen, Ausprobieren, Fehler machen und Lernen. Jede(r) von uns lernte auf neue Art, wie gut es tut, kreativ zu sein. Kreativ zu sein hat glücklich gemacht und motiviert. Diese Motivation lässt bis heute Herzen rasen.
Während viele von uns ihren Weg in die Musik, ins Fernsehen oder ins Theater gefunden haben, wählte ich Sprache und Schreiben. Wegen dem damals eingeschlagenen Weg liest du gerade diese Zeilen und ich bin dir unglaublich dankbar dafür.
Unsere Motivation hat Herzen rasen lassen. Wegen des eingeschlagenen Weges sind wir heute hier. Und hier ist es richtig schön.
Aus der Provinz nach Berlin und in die Welt
Das aufkeimende Internet in den Haushalten hat geholfen, nicht nur über den eigenen Tellerrand sehen zu können, sondern sogar darüber zu klettern. Im November 1997 nahmen wir die Arbeit auf. Angefangen haben wir mit Schallplatten- und CD-Kritiken. Es folgten Konzertberichte und redaktionelle Artikel zu Musikern und Szene-Veranstaltungen, wie dem »Battle of the year« oder »Scribble Jam«. Die Hip-Hop-Szene in Deutschland war nicht groß aber zerfasert. Das amerikanische Vorbild einer Denke und Rivalität basierend auf Himmelsrichtungen passte nicht zu unserem Land. Wir beackerten alle Felder gleichberechtigt, egal ob im Norden, Süden, Osten oder Westen. Leute aus Stuttgart und München wollten vielleicht nicht an einem Tisch mit Hamburgern sitzen, aber war deren Bier. Für uns Stand die Kunst im Mittelpunkt, weswegen sie uns, jeder für sich, häufig und gern Stühle bei sich anboten.
Wie wenig das Klein-Klein in der Praxis wert war lernten sie sowieso alle, als aus einem Keller in Berlin eine musikalische Lawine übers Land zu rollen begann. Viele hatten die Hauptstadt als Hip-Hop-Stadt überhaupt nicht auf dem Zettel gehabt, lernten aber schnell, wie mächtig sie war. Dank Nico lagen viele der heute legendären Westberlin-Mixtapes bereits auf unseren Tischen. Dank Nico hatten wir einen Anker in der großen Stadt und konnten viele der grandiosen Künstler von Anfang an unterstützen und begleiten.
Ich erinnere mich gern an das Telefonat mit der Mutter eines Rappers zurück. Er war für einen Auftritt auf dem Weg in meine Stadt aber die benötigte Bühnentechnik war noch nicht besprochen. Die Dame am Hörer war sehr zuvorkommend, half mir und gab mir seine Nummer, damit ich ihm helfen konnte. Sein Name ist Paul und heute kennt ihn die ganze Nation.
Das Magazin wuchs. In kleinen Schritten wurden wir internationaler. Jeden Tag kam von irgendwo in Europa oder der Welt ein neuer Schnipsel. Wie die Geier haben wir uns auf die Berichte und Fotos gestürzt. Das hat viel Spaß gemacht, aber um die eigene Relevanz zu steigern musste aus dem reinen Abbilden der Hip-Hop-Szene eine aktive Kraft werden. Der wichtigste Schritt zum Erfolg war getan, als wir begannen, Affären mit Plattenfirmen und Musikverlagen einzugehen, die Musiker aus den eigenen Reihen auf die Bühnen des Landes zu bringen und zu vermarkten.
Ich muss vielmals Danke sagen. Danke an all die Menschen, die täglich für das Magazin ihre Freizeit geopfert haben und uns gemeinsam, innerhalb weniger Jahre, an die Spitze katapultierten. Wir waren immer ehrlich, immer mit Herzblut dabei, immer selbst finanziert und haben uns nie fremd steuern lassen.
An Flughafenterminals, auf schäbigen Toiletten, in Proberäumen und Restaurants sind Interviews mit Künstlern entstanden. In vollen Zügen, in Fernbussen oder auf den Rücksitzen von überladenen Kleinwagen zogen wir durch Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir genossen die Abwechslung vom Schreibtisch, pilgerten zu Bühnen, bemalten Hauswände, schliefen zu wenig, begannen Hitlisten der besten Dönerbuden zu schreiben. Wir halfen motivierten Textern mit ihren Strophen Hitlisten zu stürmen und sind uns niemals zu schade gewesen, die Hände schmutzig zu machen.
Was es wert machte
Ungezählte Blasen an den Händen vom Equipment schleppen, hunderte Meter Kleinbildfilm, merkwürdige Dämpfe, abgefackeltes Catering, durch die Sonne geschmolzene Schallplattensammlungen, perfekte Lichtsettings, überflutete Lagerräume, fehlender Starkstrom, falsche Erwartungen, tiefenentspannte Musiker, gesperrte Zufahrtsstraßen, lachende und tanzende Besucher, drogenverkaufendes Garderobenpersonal, mafiöse Veranstalter, Strafzettel, dankbare Nachbarn, gefüllte Kassen, Top-10-Platzierungen, Videodrehs, gratis Getränke für das Plus 1, das schon drin ist zu dritt, Augen zudrückende Ordnungsämter, Gästelistenbettler, gut gelaunte Zeitungsredakteure und Sponsorenverträge waren ein winziger Teil dessen, mit dem wir uns königlich amüsierten oder rumschlugen. Unsere Motivation ließ Herzen rasen, die unstillbare Lust nach Geschwindigkeit und Musik waren unsere Drogen. In der Hochzeit aus 140 Wochenstunden wach sein, emotionaler Arbeitswut und hemmungslosen Zeitplänen haben wir auch Rückschläge kassiert, konnten dabei jedoch blind auf einander zählen.
Heute (2023)
Meine aktuelle Arbeit beschreibe ich gern als Mischung aus Medienberatung und Medienerstellung. Das heißt, dem Beraten von Menschen und Unternehmen, dem Erarbeiten von Anforderungsanalysen und Konzeptionen für deren Projekte und der Umsetzung von Print- und Digitalprodukten. Marketingdienstleistungen, Markenbildung, Corporate Identity, Corporate Design, Corporate Branding und Eventmanagement runden den Alltag ab.
»We called it Rock and Roll«
Ich blicke mit Freude auf die vielen Projekte zurück, die ich bearbeitet habe. Besonders zufrieden stimmen mich die, die ich für Künstler und Musiker(innen) stemmen durfte.
Es ist geplant, ausgewählte Fotos und unterhaltsame Geschichten im Buch »We called it Rock and Roll« zu veröffentlichen. Das Buch wird etwa 120 Fotos aus 25 Jahren enthalten. In kurzen Anekdoten werden Spaß und Schwierigkeiten, absurde, traurige und überraschende Erlebnisse mit Künstlern und Projekten aus Musik und Kunst thematisiert.