Musik und Frieden

Text: Christian Dinse
Veröffentlicht: im Buch »Interpretation« (2018)

 

Als wir am Sonntag an der roten Ampel standen und ich auf Giulias Hand in meiner blickte, war mir schon weniger bange. Sie hatte mich gerade am letzten Wagen der Bahn in Empfang genommen und von einer Überraschung gesprochen. Der Schneesturm, der uns wie so oft die Tränen in die Augen trieb, fühlte sich diesmal nicht an wie ein Gegner. Nicht an diesem Ort. Wir genossen ihn sehr, weil der Moment bezaubernd war. Die Lichter der Stadt, das wilde Treiben und die glücklichen Kindergesichter auf dem Fußweg zu unserer Linken gaben uns ein Gefühl der Zufriedenheit, der Heimat, wenn auch nur für kurze Zeit.

Der Regen kroch an diesem Abend überraschend schnell durch die Ärmel der Jacke, aber fünfzehn bis zwanzig Minuten zu Fuß würden wir noch brauchen, erst dann wäre es geschafft. Wir haben uns diese Stadt ausgesucht, sie verstehen gelernt und uns in sie verliebt. Die »dunklen Bögen« und viktorianischen Gebäude tragen wir im Herzen, die aufgeschlossenen Menschen bewundern wir, das viele Grün, die überraschend kurzen Wege, die Hilfsbereitschaft allerorten und den kollektiven, trockenen Humor verehren wir.

Im Gehen rekonstruierten wir unsere ersten gemeinsamen Stunden an diesem Fleck, die mittlerweile lange zurück liegen. Wir warteten auf unseren Auftritt, tauschten währenddessen witzige Erlebnisse aus. Die Frau vor uns lachte, eine andere lauschte. Deine Stimme stockte.

Die anderen Menschen in der Schlange schwiegen genügsam. Die Frau vor uns lachte eigentlich gar nicht unseretwegen, deshalb fuhrst du mit deiner Geschichte fort und erzähltest mir, wie das Leben in den nächsten Monaten sein wird. Ich nickte andächtig, war in Gedanken schon in der Zeit danach und unaufmerksam.

Ich hatte nach meinem Vortrag den Saal schnell verlassen und nur ganz kurz zur Seite geschaut, um zu sehen, ob du die Treppe herunterkommst. Ich hatte einen Augenblick auf dich gehofft. Ich bin dann einfach gegangen, gar nicht aus Angst, eher aus Stolz.

Wie im Film bist du nur einige Minuten später gerannt gekommen. Hast beinahe effektvoll einen Schuh hinter dir gelassen und sehnend ins Leere geblickt.

Zum Glück sieht man sich immer zweimal im Leben, haben wir seitdem oft zufrieden gescherzt.

Als wir am Ende des Heimwegs die Haustür erreichten, den samtigen Himmel und den Mond über uns sahen, ein Gefühl des Verstanden in uns spürten, tönte durch den Spalt eines gekippten Fensters »… die Schönheit der Chance, dass wir unser Leben lieben, so spät es auch ist …«. Ähnlich wie am Tag zuvor fragte ich mich abermals, wieso die richtigen Worte pünktlich hier auftauchen und ob es vielleicht mit dieser Straßenecke zu tun hat, dass die Melancholie immer wieder so selbstlos beiseite gewischt wird. Nur noch wenige Stunden, dann wären wir mit Sack und Pack auf dem Weg zu neuen Abenteuern. Bald schon wären wir mit neuen Erfahrungen im Gepäck auf dem Weg in eine andere Welt. Bald schon würden wir gar keine dicken Jacken mehr brauchen, der Gedanke daran sorgte ein wenig, mochten wir den Winter doch lieber als die anderen Jahreszeiten.

Gerade im Flur, die Schuhe zwar aufgebunden, aber noch an den Füßen und triefend, sprang Giulia mir plötzlich lächelnd, mit einem Brief in der Hand, in die Arme. »Wir können noch sieben Tage bleiben« bricht es voller Freude aus ihr heraus. Wie ein begossener Pudel stand ich da, etwas unterkühlt, nicht recht bei Sinnen aber schlagartig überglücklich. Wir bleiben noch hier, in unserem Domizil, an unserem Lieblingsort mit den Lieblingsmenschen, zur besten Zeit des Jahres, in der schönsten Stadt der Welt.