Karina ist weggezogen

Text: Christian Dinse
Veröffentlicht: im Buch »Interpretation« (2018)

 

Unser Plan zu diesem Zeitpunkt war klar gefasst, aber mit bloßen Händen gar nicht umsetzbar. Es war im Winter 1986, als wir in der schwarz-weißen Welt gefangen waren, aber in keiner Weise ahnten, wie es in ihr brodelte. Für uns war nur der Schnee wichtig, den es damals reichlich gab. Mit eisernem Willen und ohne Furcht vor Kälte, gruben wir, trugen wir und kratzten wir die weiße Pracht zusammen, um eine Mauer zu errichten. Ja, wir wollten wirklich eine Mauer aus Schnee bauen, mit fünfjährigen Händen. Dimensionen erfasst man als Kind anders, daher waren wir unserem Ziel ständig nahe und stolz. Heute würden wir lachen.

Mein Kumpan war Christian, er hieß wie ich, obwohl meine Mutter oft erwähnte, dass zum Zeitpunkt meiner Geburt der Name in unserer Gegend rar war. Sein Wohnhaus, ein 70er-Jahre-Altbau, mit Kachelofen im zentralen Teil der Wohnung und in einer kleinen Seitenstraße, etwa zehn Minuten Fußweg vom Stadtzentrum gelegen, war nicht nur Zeuge unseres Treibens, sondern noch vieler weiterer Geschichten, von denen sich heute wahrscheinlich die Wenigsten erzählen.

Das Haus, in dem Christian wohnte, war im Hinterhof mit einer Rasenfläche ausgestattet. Mein Wohnhaus stand zwar direkt daneben, aber dahinter gab es nur Kieselsteine. Fies, weil ich als Kind im Sommer häufig ohne Schuhe umherspaziert bin und mir einmal sogar einen Stein in die Ferse eingetreten habe. Selbst bei längerer Überlegung ist mir heute nicht mehr klar, ob das der Realität entspricht, aber ich sehe das Bild noch vor mir – und die Wunde. Der Schmerz daran fehlt, und das zeugt davon, dass die Geschichte entweder völliger Humbug ist, weil mein Kopf vor Phantasie nur so strotzt, oder, dass das Bewusstsein diesen Teil gekonnt weggefiltert hat.

Das Bewusstsein hätte auch lieber das Erlebnis wegfiltern sollen, das mir im Jahr 1987 widerfahren ist. Ich war alleine unterwegs, als mir auf unerklärliche Weise eine Spinne auf die Pelle rückte. Vielleicht war ich schneckenlangsam oder sie eine verdammte Hexe, aber aus irgendeinem Grund hatte dieses Biest es geschafft, sich von unten den Weg auf mein Bein nach oben zu bahnen.

Vorgelebt, dass Spinnen nicht die Freunde der Menschheit sind, kreischte ich was die sechsjährige Lunge hergab, aber Hilfe kam nicht. Die wenigen Sekunden der Situation schienen ausweglos, doch Adrenalin und letzter Mut hat mich per Schlag mit der linken Hand von dem Tier befreit und danach so schnell rennen lassen wie selten zuvor.

Als Christians Mutter vom Einkaufen zurück war, hatte unsere Mauer eine stattliche Höhe von 20 Zentimetern erreicht. Eigentlich ist unser Ziel gewesen, einen Schutzwall zum Verstecken zu schaffen, um anschließend vorbeigehende Menschen mit Schneebällen zu bewerfen.

Mit den Händen hat sich das Ziel nicht erreichen lassen.

Christians Mutter hatte bei ihrem Weggehen versprochen, uns nach ihrer Rückkehr mit Spielzeugschaufeln zu versorgen, was sie auch tat.

Es muss ein Freitag gewesen sein, denn kurz nachdem wir endlich das richtige Werkzeug hatten, wurde ich nach Hause gerufen. Freitag war Badetag und an viel mehr als das war an diesem Abend nicht mehr zu denken.

Im selben Haus wie Christian lebte eine Frau. Ihr Ehemann war bei der Armee, entfernt stationiert, oder die beiden waren geschieden. Sicher bin ich mir nicht. Ihre Tochter war in meinem Alter, sie war blond, hieß Karina und bis heute habe ich zahlreiche Stunden damit verbracht, sie wiederzufinden. Meine Lieblingserinnerung an sie ist die, in der wir schweigend am Fenster ihres kleinen Zimmers stehen und zu den Bergen schauen.

Entfernte Berge, bedeckt mit Nadelbäumen. Die Berge, die sich rund um unsere kleine Heimatstadt erhoben und mehrfach Regenwolken von uns fernhielten.

Meine Erinnerung lässt Karina schwedisch, dänisch oder mindestens norddeutsch erscheinen, ihre kräftigen blonden Haare übten eine faszinierende Anziehung auf mich aus. Wir gingen oft auf den selben Wegen, turnten auf Wiesen herum, lagen sogar einmal im Sommer gemeinsam auf der Straße – vor unser beiden Häuser – in der Sonne. Autos gab es damals selten, Gefahr bestand keine.

Der warme Asphalt fühlte sich wundervoll an.

Unbeeinflusst und ohne Vorwarnung musste ich irgendwann erfahren, dass Karina weggeht. Ein bisschen traurig bin ich heute noch darüber, dass wir uns nie wiedergesehen haben, ein bisschen enttäuscht bin ich allerdings auch, dass alle Menschen um mich herum, die ich in den ganzen Jahren nach ihr fragen konnte, leider keine Hilfe leisten konnten und mir nicht möglich machten, sie nochmal in den Arm zu nehmen.