Text: Christian Dinse
Veröffentlicht: im Buch »Interpretation« (2018)
Fenster auf. Fenster zu. Fenster auf. Fenster zu. Fenster zu. Fenster zu. Fenster zu. Fenster zu. Da ist sie. Gebannt schaue ich in ihre strahlenden, rehbraunen Augen und streichle wie elektrisiert ihr gewelltes, weiches Haar, das sich lässig auf ihrer linken Schulter zur Ruhe gesetzt hat.
Mein Sonnenschein an Regentagen. Zu fest in der Hand der Gefangenschaft des Alltags, des Rechtschaffens. Das eigenwillige, gewitzte, aufopfernde und schon mal über die Stränge schlagende Mädchen aus der unaussprechlichen Gegend.
Auf ihrer rechten Schulter sind die Haare gefangen und atemlos. Eingeklemmt unter dem Träger vom Rucksack, gebettet auf karierter Bluse. Neben dem Ohrring, der schon ihrer Großmutter gehörte und der mehr über sie erzählen könnte als ich mir in meinen kühnsten Träumen auszumalen vermag, surrt eine Fliege.
Auch kariert ist die Wolldecke. Die Decke aus dem Campingbus. Die Decke, die Fransen hat und Fäden zieht. Die Decke, die durch Kerzenwachs an Festivalabenden und Hundekrallen sowohl Materialauftrag als auch Materialabtrag erfahren hat. Die karierte Wolldecke, die im passenden Moment immer bei uns ist. Picknicknachmittag.
Sie liegt. Unter der strahlenden Sonne. Sie liegt lässig auf dem hellgrünen Rasen vor einer Baumreihe. Noch nicht allzu lang her, da haben wir Zettel verteilt um dieses kleine Idyll mitten im Betondschungel vor Baggern zu retten.
Abgeschmettert sind wir worden, aber irgendwie auch gehört.
Wir atmen die Ruhe und sehnen noch viele Tage in der Oase. Abermals versucht Giulia mir ihre Muttersprache näher zu bringen, aber mehr als ein »barbe à papa« und etwas wie »je ne le comprends pas« schaffe ich in freier Wildbahn bis heute nicht. Nicht weit neben uns eine Familie aus drei Generationen, weiter hinten ein Springbrunnen und um uns herum toben zwei Jungs mit einem Fußball. Weiter vorn, am Rand der Wiese, direkt am Kieselsteinweg liegt eine Straße mit gelber Bushaltestelle.
Unweit davon eine Gruppe sonnengelb-behuteter und Kindergärtnerin-behüteter Kinder, die darauf wartet, dass der ebenfalls anwesende Verkehrspolizist das Zeichen zum Überqueren der Fahrbahn gibt.
Ich mag es anzusehen, wie die lieben Kleinen in Gemeinschaft den Umgang mit alltäglichen Gefahren des Lebens lernen und alles Neue aufsaugen und analysieren. Ich mag es mir vorzustellen, wie sich in ihren Köpfen die abstrakten Bilder der Wirklichkeit als real gewordene Spielteppichszenen zu nachvollziehbaren und überraschenden Tagträumen entwickeln und im Laufe der Zeit zu üblichen Tageserlebnissen werden.
Der Polizist winkt und die kleine Bande setzt sich in Zweierreihen in Bewegung. Verkehrserziehung im Backsteindickicht.
Steine als Stufen verstehen, als Hoffnungsträger, als Zeitzeugen. Wurfgeschoss für Wasserkreisel, interpretiert als Heimat. Nicht nur im Frühling meine Liebe, nicht nur Schutz und Geborgenheit, nein Seelenfrieden und Schlafplatz.
Bei Sonnenschein gibt es hier Kaffee, gebrüht mit Pulver aus handbetriebenen Mühlen. Bei Sturm gibt es hier eigenwillige Geräusche und bei Regen eigene Flüsse. Meine Liebe war schon immer die Stadt, Bleistiftzeichnungen, Slalom um parkende Autos und in vollen Bahnen reisen.
Meine Liebe war auch immer Musik und dieser gegenwärtig erweichende Klang einer jugendlichen Sopran, deren Ursprung hier vor mir im Gras liegt. Die Bluse luftig über dem grauen Top.
Ihr linker Schuh wurde erst vor wenigen Minuten unglücklich von einem Schluck Wasser aus meinem Mund getroffen, als wir im blumenverhangenen Innenhof eines kleinen Restaurants standen, in dem die Größe der Herzlichkeit dem Ausmaß der Witzigkeit des Wein-Sommelière in nichts nachstand. »Keine Witze, wenn ich trinke.«
Es prustete einfach aus mir heraus und sie hat gelacht.
Gleich hat sie gelacht, als ich Fotos auf dem Wohnzimmertisch sortierte, sie ins Badezimmer verschwand, sich aber – durch einen ziemlich geschickten Aufbau der Wohnung – von hinten anschlich und mich in die Seite zwickte. Damals war es Tee auf ihrem nackten Bein.
Wir haben gemeinsam gestaunt, als es einmal leise am Küchenfenster geklopft hat und ein kleiner Vogel die Scheibe energisch mit seinem Schnabel bearbeitete.
»Nestbau liegt in den Genen« hat sie damals gesagt und dass Bäume eigentlich besser geeignet sind, für den kleinen Piepmatz.
»Nestbau liegt in den Genen« sagte ich stolz zum Immobilienmakler und nahm Giulia in den Arm. Sagte weiterhin zu ihm, wir hätten dieses Gefühl von »Angekommen« in uns, wie tausende Generationen vor uns es bereits erlebten. Wir seien überzeugt von dem was wir wollen und nutzen die Chance des Augenblicks.
Ich stehe vor dem schwarz gekleideten Mann mit roter Mappe und Mobiltelefon in der Hand. Ich halte meine Zukunft im Arm, küsse sie auf die Stirn, als sie lächelnd zustimmt, mit mir für sich und mit mir für uns die kleine Stadtwohnung zu mieten.
Unvorbereitet werde ich in die Wirklichkeit zurückgerufen, als ein Hund bellt.
Ich schwelge so unglaublich gern in den Zeiten die waren und bemerke dabei selten genug, dass das Jetzt ebenso schön ist. Giulia greift meine Hand und zieht sie zu sich, streift mir mit den Fingern der anderen durch die Haare und lächelt zufrieden.
»Woran denkst du« frage ich sie.
Glücklich sei sie, sind ihre ersten Worte. Glücklich über die gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbringen. Wir sind den Schritt gegangen und haben unseren Traum wahr werden lassen. Wir haben uns für acht Monate aus dem Alltag ausgeklinkt, Arbeitsverträge pausiert und als »Sicherungsnetz« die Miete im Voraus überwiesen. Wir haben unsere Rucksäcke gepackt und sind losgefahren.
Wir haben Eisbären gesehen und uns auf einer Gondel in Venedig strahlenden Gemütes geküsst, einfach nur so, weil diese Szene die erste war, die wir irgendwann einmal beim Durchblättern eines Reiseführers im Supermarktwühlkorb sahen. Nach einer langen Nacht vor dem Zelt, weil wir nicht wussten, wo sich die Spinne verkrochen hat, die durch den offenen Reißverschluss hineingekrabbelt war, haben wir im See gebadet und später über offenem Feuer – am Ufer – Fisch gebraten.
Wir haben Cowboyhüte getragen, auf Streichhölzern gekaut und sind mangels Pferden auf einer Kuh geritten.
Giulia erinnert sich an die Alpen und an die Eiszapfen an unseren Nasen und Augenbrauen. Zähneklappernd haben wir ausprobiert, was ein Polarschlafsack wirklich taugt und festgestellt, dass Tee auch in Thermoskannen gefrieren kann. Drei Tage haben wir uns ausschließlich ohne Geld ernährt und nur dass gegessen und getrunken, was die Natur hergab.
Wir haben Tischfeuerwerke mit winzigen silbergoldenen Glitzerspänen gefüllt und auf der Rückbank eines Mietwagens angezündet, weil der nette Autovermieter vorher mehrfach betont hat, dass »per Versicherungsschutz« alles was mit dem Auto passiert legitim sei.
Bis auf eine Sache! Niemals dürfe das Auto bei einem Unfall auf dem Dach liegen bleiben, dann wäre nicht nur die Kaution futsch. Unter diesem Umstand waren wir der Ansicht, dass der nette Mann Glitzerstaub auf Sitzen und in Ritzen als erfreuliches Geschenk betrachten würde, wenn wir zurück sind.
Zurück sind schlagartig auch die bekannten Handbewegungen und Stimmen. Das schrille Klingeln eines Telefons reißt mich heraus aus der schöneren Realität und presst mich zurück in die Gefangenschaft der Gegenwart.
Fenster auf, Fenster auf, Fenster auf.
Ich sitze am Schreibtisch eines Medienunternehmens und klicke mich mit der Maus noch halb in Trance durch die Verzeichnisse auf meiner Festplatte. Blöd ist dieses tatsächliche Leben … und so stumpf. Fenster zu, Fenster zu, Fenster zu.
Da ist sie. Gebannt schaue ich in ihre strahlenden Augen und streichle ihr gewelltes, weiches Haar – in Gedanken.
Gebannt starre ich in ihre Augen. Ihre Augen, auf einem Foto. Ein Foto. Ein Foto. Ein Foto.
Alles ein Schein. Das Foto ist das Hintergrundbild auf dem Bildschirm meines Laptop. Das Foto ist die Erinnerung an eine schöne Zeit. Die fabelhafte Zeit als Zimmerschlösser noch Schlüssel und keine Plastikkarten benötigten. Die schöne Zeit auf der Wiese, Sirenenheulen und hetzende Menschen. Die Erinnerung an die leuchtenden Augen meiner Liebe.
Die kaum zu beschreibende »Schönheit der Chance« und das Schwelgen in einem herzallerlieben Augenblick. Die Wiese mit der gelben Bushaltestelle im Hintergrund. Es zerplatzt wie eine Seifenblase und vermischt sich schlagartig mit der Stimme eines Arbeitskollegen. »Die aufgelaufenen Metadaten können auf den großen Cluster-Dateisystemen des Kunden zu einem beträchtlichen Overhead führen.«
Ich schaue ihn entgeistert an, schüttle den Kopf und erzähle ihm, dass ich gerade auf einer Kuh geritten bin. Er erwidert: »Vergiss den Quatsch, das hier ist die Realität.«
Ich antworte mit forscher Stimme: »Diese dämliche Realität ist doch nur was für Leute, die sich nichts Schöneres vorstellen können. Lass uns mittagessen.«